
Verschiedene Orte und deren genius loci spielen in Hans Kaisers Werk eine große Rolle: von der Soester Börde über Ostfriesland bis hin zur mediterranen Landschaft Ibizas. Die Freundschaft zum italienischen Künstler Emilio Vedova, den Kaiser 1961 auf Ibiza kennengelernt hat, führt ihn 1966 für einen Arbeitsaufenthalt nach Venedig. Vermittelt durch den Künstlerkollegen erhält er für einige Woche den Zugang zu einem Atelier und arbeitet dort an einem Zyklus von Gemälden und Gouachen, den er unter den Titel „Bildnis einer Stadt“ stellt. Hiermit knüpft er an die Tradition der Vedutenmalerei und des faszinierten Blicks auf Venedig an – von Canaletto bis Monet.
In den Arbeiten des Zyklus setzt sich Kaiser mit prägenden Bauten der Stadt, wie dem Dogenpalast, der Seufzerbrücke, Santa Maria della Salute oder dem Palazzo Guggenheim, auseinander und erweist sich dabei, wie in vielen Arbeiten der Zeit, als Grenzgänger zwischen Figuration und Abstraktion. So bleibt die ikonische Architektur zwar klar erkennbar, wird zugleich aber in ein rhythmisches Geflecht aus Pinselhieben und Schriftzeichen aufgelöst. Die statische Architektur wird zur Bewegung, wird flüssig wie das Wasser der Kanäle, und ihre „erstarrte Musik“ (Schelling) wird wieder hörbar in einem Gewirr unterschiedlicher ‚Stimmen‘.
Beispielhaft zeigt sich dies im Gemälde Bildnis einer Stadt, am Dogenpalast. Ihm eignet mit Ausnahme einiger spärlich verteilter Farbflecken in Blau und Rot die Anmutung einer Grisaille-Malerei und es nimmt darin Bezug auf das die Fassade des Dogenpalastes dominierende Weiß des Marmors. Aufgenommen und dabei zugleich aufgelöst wird die horizontale Strukturierung des Baus mit seinen Säulen und den charakteristischen Spitzbögen, die hier nun gerade nicht das Bild architektonisch, d.h. statisch ordnen, sondern frei und rhythmisch durch den Bildraum schwingen. Ebenso frei flottieren Schriftzeichen im Bild, kurze Notizen, die von der Handschrift des Künstlers zeugen, sich in der freien Gestik aber der eindeutigen Lesbarkeit entziehen. Und ebenso wie der gesamte Raumeindruck im Bild ambig bleibt, ohne dass sich eine einzelne Ansicht der Fassade isolieren lässt, hält sich auch Kaisers Schrift nicht an das gewöhnliche Ordnungsprinzip der Zeile, vielmehr scheint sie multidirektional durch den Raum zu schweben. Mit Blick auf den ‚dargestellten‘ Ort – den Dogenpalast an der lebhaften Piazza San Marco – könnte man dabei an die akustische Dimension denken, die den genius loci genauso charakterisiert wie die visuelle: das Stimmengewirr, einzelne Satzfetzten, oder in den Worten des Schriftstellers Michel Butor: jenes „babylonische Sprühen“ und „unaufhörliche Rieseln“, das einen als Besucher des Platzes überflutet.[i]
[i] Michel Butor: Beschreibung von San Marco. Übersetzt von Helmut Moysich. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2018, S. 9.
Text: Justus Beyerling