Hans Kaiser beginnt sein künstlerisches Werk als Autodidakt noch während seiner Lehrzeit als Maler. Das früheste dokumentierte Werk ist datiert auf das Jahr 1933 und stellt, wie viele seiner anfänglichen Arbeiten, ein Selbstbildnis dar (Selbstbildnis als Akt, 1933). 1936 bezieht er sein erstes eigenes Atelier in Bochum. Während der Zeit des Nationalsozialismus ist Kaiser beinahe komplett vom künstlerischen Austausch und den Entwicklungen der modernen Kunst abgeschnitten. In dieser Zeit erprobt er sich vor allem in traditionellen Bildgattungen, malt Portraits, Stillleben und Landschaften. Während die Mehrzahl der Arbeiten dieser Jahre der malerischen Tradition verbunden sind (Eilmsen, Abendstimmung, 1944), zeugen andere, die während des Krieges im Verborgenen entstehen, von den leidvollen Erfahrungen der NS- Diktatur sowie von einer großen malerischen Expressivität (Der Irrsinn, 1944). In diesen Arbeiten findet einerseits die Auseinandersetzung mit Lovis Corinth ein Echo, der ein wichtiger Bezugspunkt für Kaiser in diesen Jahren war, andererseits weisen sie bereits voraus auf die malerische Entwicklung nach dem Krieg. Ein großer Teil des Frühwerks fällt dem Krieg zum Opfer und wird beim Bombenangriff auf Bochum 1944 zerstört.
Nach dem Krieg gilt es für Hans Kaiser, die verlorene Zeit in seiner malerischen Entwicklung aufzuholen. Er setzt sich intensiv mit den Klassikern der modernen Kunst (van Gogh, Matisse, Picasso, die Kubisten) auseinander und vollzieht deren Innovationen malerisch nach. So erweist er in einem Selbstbildnis van Gogh seine Reverenz (Selbstbildnis mit roter Sonne, 1950), malt seine Frau Hilde als Madame Matisse (Hilde, 1951) oder lässt eine Stadtansicht von Soest über einer Figur zusammenstürzen wie beim Futuristen Umberto Boccioni (Pferdeköttelkathrin, 1951). Daneben beschäftigt er sich auch mit dem Werk des Soester Expressionisten Wilhelm Morgner. 1950 kann Kaiser das erste Mal nach Paris reisen und viele Arbeiten im Original sehen, neben der schon historisch gewordenen Moderne auch die zeitgenössischen Strömungen, wie die Nouvelle École de Paris. Sein Werk präsentiert sich in diesen Jahren als ein Durchlaufen der modernen Kunstgeschichte „im Schnellkurs [...], vom Impressionismus über den Expressionismus und Kubismus bis zur Abstraktion.“[1] (Zdenek Felix)
Nach der Auseinandersetzung mit der klassischen Moderne ist es Anfang der 1950er Jahre vor allem der Impuls der Nouvelle École de Paris, mit Künstlern wie Serge Poliakoff, Nicolas de Staël oder Alfred Manessier, den Hans Kaiser aufnimmt. Vor allem Manessier, der auch ein Wegbereiter der abstrakten Glasmalerei war, stellt einen wichtigen Einfluss für Kaiser dar. Die Arbeiten dieser Zeit, die Kaiser selbst „Raumbilder“ oder „gebaute Bilder“ nennt, zeichnen sich durch eine konstruktive Zergliederung des Bildraumes in farbige Flächen aus. Die Dominanz einer schwarzen Konturlinie, die transluzente Qualität der Farben sowie einzelne Bildtitel (Romanik, 1953) weisen bereits auf die späteren Glasfenster Kaisers voraus. Die Arbeiten dieser Zeit entsprechen im Besonderen Kaisers rückblickend formulierter Maxime, „daß meine Bilder Fenster sein sollten, durch die man in etwas anderes hineinsah.“[2]
Ab Mitte der 1950er Jahre überführt Kaiser die in der Malerei gefundene Formensprache in seine angewandten Arbeiten, vor allem Mosaike und Glasfenster. 1955 richtet er hierfür eine eigene Glaswerkstatt eine. Gehen frühe angewandte Arbeiten noch von der Figur aus, die geometrisch aufgelöst wird, sind sie ab Ende der 1950er ausschließlich abstrakt und arbeiten mit der reinen Symbolik der Farbe. Als Höhepunkte seines glasmalerischen Werks lassen sich seine zwischen 1957 und 1977 entstandenen insgesamt 13 Fenster für St. Patrokli in Soest, das 70 Meter lange Dickglas-Beton-Fensterband in der Johanneskirche, Soest, sowie seine beiden 1976 und 1981 eingesetzten Fenster in der Washington National Cathedral betrachten. Für seine Glasfenster erfährt Kaiser schon zu Lebzeiten große Anerkennung, u.a. von Josef Albers. So schreibt dieser mit Blick auf die drei Tondofenster in der Krypta von St. Patrokli in einem Brief an Hans Kaiser: „[I]ch bin froh nun zu wissen, wer der Autor ist. Denn ich betrachte diese 3 Fenster als das Allerbeste, das ich seit Jahren gesehen habe“.[3]
Intensiv, oft über viele Monate, arbeitet Kaiser an den großformatigen Aufträgen. Die Entwürfe der Fenster fertigt er dabei stets im Maßstab 1 zu 1 an. Eindrücklichstes Beispiel dieses aufwendigen Entwurfsprozess ist das 70 m lange Fensterband der Johanneskirche in Soest. Für ein halbes Jahr richtet er sich im Rohbau der Kirche sein Atelier ein und arbeitet vor Ort an dem raumumspannenden Entwurf. Im Entwurfsprozess zeigt sich, wie Kaiser ausgehend von der skripturalen Geste, die auch seine Malerei ab dem Ende der 1950er Jahre prägt, das Lineament seiner Fenster entwickelt.
Parallel zur Überführung der malerischen Formensprache in seine Mosaike und Glasfenster, löst sich Kaiser 1957 in seiner Malerei von allem formalen Halt und sprengt das strenge Liniengerüst seiner „Raumbilder“ in der Dynamik einer gestischen Malaktion auf. Der entstehenden Werkgruppe gibt er den Titel Losschreibungen. Während deren erste Arbeiten sich durch eine ungestüme Vehemenz und Explosivität auszeichnen, entwickelt er in den 1958 folgenden Arbeiten seine ausgeprägt gestisch-kalligraphische Handschrift, um schließlich mit den Arbeiten der blauen Serie zu fast monochromen Farbräumen vorzudringen, in die schwebend sparsame Gesten und abstrakte Zeichen gesetzt sind. In der gestischen Faktur der Arbeiten knüpft Kaiser an die zeitgenössischen Entwicklungen der abstrakten Malerei in Europa, die art informel, an und entwickelt im Fokus auf das Verhältnis von gestischem Zeichen, Farbe und Raum zugleich eine eigenständige Position.
Mit der an die Losschreibungen anschließenden Serie der Brandbilder geht Hans Kaiser über die gestische Auflösung der Form hinaus und greift die Materialität des Bildes selbst an. Ziel ist es, wie Kaiser selbst rückblickend schreibt, „den Zerfall mit in den Raum [zu] nehmen“.[4] Dabei erweist er sich 1958 als Pionier. Zeitgleich mit Alberto Burri, Yves Klein und Otto Piene experimentiert er mit Feuer: Er setzt die Nitrofarbe seiner Gemälde in Brand und lenkt die Flammen mit dem Atem, um so die zerstörerische Kraft des Feuers zu seinem Pinsel zu machen. Es entstehen ‚versehrte‘ Bilder mit schrundigen, aufgebrochenen Oberflächen und palimpsestartigen Überlagerungen und Schichten. Für seine maltechnische Innovation zahlt Kaiser allerdings einen hohen Preis. Er muss die Serie schon 1959 aufgrund einer lebensgefährlichen Vergiftung durch die Dämpfe der Nitrofarbe abbrechen und braucht mehrere Monate zur Genesung.
Nach der schweren Vergiftung bei der Arbeit an seinen Brandbildern 1959, muss Hans Kaiser einen künstlerischen Neuanfang wagen. Angeregt durch den Lyriker Ernst Meister, reist er 1960 für drei Monate nach Ibiza. Finanziert wird die Reise durch eine Reihe von Sammlern, die im Gegenzug nach der Rückkehr ein Bild erhalten sollen. Auf Ibiza kehrt Kaiser, nachdem er mit seinen Losschreibungen und Brandbildern zu einem abstrakten, informellen Maler geworden ist, zu seinen Wurzeln in der Landschaftsmalerei zurück. Es entstehen in einer Art abstraktem Impressionismus farbkräftige, vom Licht und der ibizenkischen Landschaft inspirierte Arbeiten, ähnlich denen des späten Monets, oder zeitgenössisch denen Joan Mitchells.
Der Kunstkritiker John Anthony Thwaites spricht in einer begeisterten Rezension von „explodierten Landschaften“.[5] Hans Kaiser nennt die Arbeiten, die 1960 und 1961 entstehen, sein Ibizenkisches Tagebuch. Ab 1965 folgen zahlreiche weitere regelmäßige Arbeitsaufenthalte auf Ibiza, ab 1978 besitzt er dort ein eigenes Atelierhaus. Auf Ibiza entwickeln sich zudem zahlreiche künstlerische Freundschaften, etwa zu den Malern Erwin Bechtold und Emilio Vedova, dem Komponisten Stefan Wolpe oder dem Architekten Josep Lluis Sert.
In den 1960er Jahren entsteht Hans Kaisers malerisches Hauptwerk, das sich durch eine gestisch-skripturale Handschrift auszeichnet. Diese beschränkt sich dabei nicht mehr auf die bloße gestische Aktion, wie Sie seit den 1950er Jahren eine Reihe informeller Künstler ins Zentrum ihres Schaffens gestellt haben, sondern erkundet ausgehend von der tatsächlichen (Kurrent-)Handschrift in vielfältiger Weise die Grenzbereiche von Text, Schrift und Bild. Neben gestischen Farbspuren finden sich in Kaisers Gemälden immer wieder verschliffene Schriftzeichen, Chiffren und ganze Textpassagen, die im Changieren zwischen Lesbarkeit – als Text – und Unlesbarkeit und damit primär visueller Wahrnehmung – als skriptural anmutendes Bild – im Kontext einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit Schrift in der Zeit stehen. Zu denken wäre hier an Künstler wie Henri Michaux und Cy Twombly.
Es entstehen im Laufe der 1960er Jahre mehrere Werkzyklen, zumeist inspiriert von verschiedenen Landschaftserfahrung. 1962 arbeitet Kaiser in einem Atelier in Ostfriesland an seinem Ostfriesische Tagebuch, 1965 reist er ein drittes Mal nach Ibiza und beendet das 1960 begonnene Ibizenkische Tagebuch mit einer Reihe von großformatigen Gemälden, darunter das Schlüsselwerk Ibiza 1960, 1961, 1965 und was aus mir wurde. Auch in den folgenden Jahren arbeitet er regelmäßig auf Ibiza. 1966 reist er auf Einladung des befreundeten Künstlers Emilia Vedova nach Venedig, wo in Auseinandersetzung mit der geschichtsträchtigen Architektur der Zyklus Venedig, Bildnis einer Stadt entsteht.
Neben seinen Gemälden und angewandten Arbeiten spielen auch Arbeiten auf Papier eine zentrale Rolle in Kaisers Werk. Vor allem ab Mitte der 1960er Jahre entstehen umfangreiche Serien von Tuschezeichnungen und Gouachen, z.T. auch Collagen. In den 1970er Jahren fokussiert sich Kaiser neben den angewandten Arbeiten fast ausschließlich auf Gouachen, die zu seinem präferierten Medium werden.
Die zumeist auf Ibiza entstehenden Arbeiten zeichnen sich einerseits durch eine intensive, mediterrane Farbigkeit und einen landschaftlichen Charakter aus. Andererseits nähert sich in Kaisers Gouachen die gestisch-skripturale Handschrift der Malerei wieder der konkreten Handschrift an und neben verstreuten Zeichen werden ganze Textblöcke in den oft freien Weißraum der Blätter gesetzt. Im „double entendre: Bildfläche – Bildraum“[6](John Anthony Thwaites), im Wechselspiel zwischen visuellem Eindruck und Lesbarkeit, ähneln diese Arbeiten ostasiatischen Rollbildern.
Schrift und Schreiben spielen nicht nur in Form der Dominanz der skripturalen Geste im malerischen und graphischen Werk Hans Kaisers eine zentrale Rolle. Seit Ende der 1950er Jahre wird die bildkünstlerische Arbeit auch von umfangreichen schriftlichen Aufzeichnungen, lyrischen Notaten und reflexiven Skizzen begleitet. Kaiser bezeichnet diese Texte als seine Einschreibungen. Einerseits dokumentieren sie als Paratexte die Entstehungsprozesse einzelner Bildwerke, die im Falle des glasmalerischen Werkes im sakralen Raum immer auch intensive Auseinandersetzungen mit der Bibel darstellen, oder formulieren künstlerische Maximen, andererseits bilden sie ein eigenständiges literarisches Komplement zum bildkünstlerischen Werk, das in Form inskribierter Texte vielfach selbst wieder ins Bild rückt. Schon in der Entstehung der Einschreibungen sind Text und Bild, Schrift und Zeichnung eng aufeinander bezogen. In Kaisers Skizzenblöcken stehen notierter Text und Skizze nicht nur direkt nebeneinander, sondern gehen vielfach eine hybride Einheit ein.
Als Grenzgänger zwischen Figuration und Abstraktion bleibt Hans Kaiser zeit seines Lebens dem Bildnis treu. Der Lyriker Ernst Meister fasst es bereits 1959 in einem Text treffend: „Zu keiner Zeit aber hat er vom Bildnis abgelassen. Das Menschenbild und immer wieder das Menschenbild. [...] Das Bildnis: die Domäne Kaisers.“[7] Neben vereinzelten Gemälden schafft er parallel zu seinem malerischen Werk in den 1960er und 1970er Jahren unzählige Portraitzeichnungen in Graphit und Tusche, oft in rasanter Geschwindigkeit und mit wenigen präzisen Strichen festgehalten. Dabei gehen Zeichnung und schriftliche Notation vielfach ineinander über: das Bildnis wird nicht durch die Linie allein fixiert, sondern auch von Zeichen umgeben, manchmal regelrecht ‚erschrieben‘.
Ab 1978 verdichtet sich der lichte Raum, der die Gouachen seit den 1960er Jahren auszeichnet, in Hans Kaisers Spätwerk zu teils monochromen Farbräumen. Kaiser nennt diese letzte Werkphase Imaginäre Räume. Trotz einer sich abzeichnenden schweren Erkrankung, der Hans Kaiser 1982 erliegt, entsteht ein umfangreicher Werkzyklus mit einer Reihe großformatiger Arbeiten. Die in diesen Arbeiten vielfach thematisierte Öffnung des Raumes bekommt angesichts des Nachdenkens über den eigenen Tod eine metaphysische Dimension.
[1] Zdenek Felix: Bilder als Chiffren und Zeichen. In: Ute Eggeling, Michael Beck (Hg.): Hans Kaiser (Ausst.-Kat. Galerie Utermann, Dortmund 1986). Dortmund 1986, o.S.
[2] Hans Kaiser: Einschreibung, Ibiza, 6.4.1981, Stadtarchiv Soest, Nachlass Hans Kaiser, P164.55.
[3] Josef Albers: Brief an Hans Kaiser, 21.2.1961, Stadtarchiv Soest, Nachlass Hans Kaiser, P 164.33.
[4] Hans Kaiser: Einschreibung, Ibiza, 6.4.1981, Stadtarchiv Soest, Nachlass Hans Kaiser, P164.55.
[5] John Anthony Thwaites: Bilder, Zeichnungen, Gouachen. In: Ders. (Hg.): Hans Kaiser. Köln 1979, S. 7–18, hier: S. 12. Das Zitat entstammt ursprünglich einer Rezension Thwaites’ in der Deutschen Zeitung vom 4. Januar 1961.
[6] Ebd., S. 16.
[7] Ernst Meister: Fragendes Sein. In: Hans Kaiser – Soest (Ausst.-Kat. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, 11. Oktober bis 1. November 1959). Hamm 1959, S. 3–6, hier: S. 3.
Text: Justus Beyerling